Jeden Tag sehen wir es in den Nachrichten. Flüchtlinge, die nach Deutschland strömen, in der Hoffnung auf Schutz und ein besseres Leben. Ich kann mich nur vage in diese Menschen hineinversetzen, denn ich habe nie in einem Kriegsgebiet gelebt, wurde nie verfolgt und musste nie unter Gefahr meines Lebens flüchten.
Dafür bin ich dankbar, denn ich kann erahnen, was die Menschen auf sich nehmen und erdulden müssen. Und ich weiß, dass ihr Wunsch auf ein besseres und anderes Leben ihr gutes Recht ist. Und was für ein Recht nehmen wir uns heraus, es ihnen zu verwehren?
Die derzeitige Flüchtiglingssituation erinnert mich jedoch auch an die Zeit, als ich mit meinen Eltern nach Deutschland gekommen bin. Wir waren keine Flüchtlinge, wir waren Aussiedler. Meine Situation war also eine ganz andere. Sie war von keinen Gefahren begleitet. Für mich als Kind war sie aber sehr einschneidend. Ich bin heute 38 Jahre alt und Deutschland ist mein Zuhause. Aber das war nicht immer so.
Ich war fünf Jahre alt, als mein Leben in Polen auf den Kopf gestellt wurde. Meine Eltern verkauften Haus und Hof, die eigene Firma und verschenkten fast alle Sachen. Das einzige was übrig blieb, waren ein oder zwei Koffer mit Kleidung und zwei Kisten mit Habseligkeiten, die uns begleiten sollten in ein neues Leben. Wir verließen Ostpreußen mit dem Zug in Richtung Deutschland. Für mich als Kind war dies ein großes Abenteuer, an dessen Einzelheiten ich mich heute noch erinnere, als wäre es erst gestern gewesen. Ich freute mich auf Deutschland. Auf das Land in dem alles so viel besser sein sollte.
Es war November 1982. Polen war kommunistisch. Lebensmittel wurden rationiert. Wir bekamen Lebensmittelkarten, die anzeigten, wie viel uns von welchen Lebensmitteln zustand. Um Fleisch zu kaufen, fuhren wir in die benachbarte Stadt und stellten uns mitten in der Nacht in die lange Schlange vor der örtlichen Metzgerei. Wenn wir rechtzeitig dort waren, bekamen wir mit ein wenig Glück nach ein paar Stunden Anstehzeit etwas ab. Ansonsten mussten wir unverrichteter Dinge wieder heimfahren.
Zu Ostern und zu Weihnachten bekamen wir Pakete von den Verwandten in Deutschland und in Amerika. Sie enthielten Orangen, Kaugummis, Kaffee, Schokolade. Wahre Schätze, die wir damals in Polen gar nicht oder nur sehr eingeschränkt hatten. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als ich mir einmal eine ganze Packung Kaugummis auf einmal in den Mund stopfte und mich glückseelig an dem Geschmack und dem riesigen Gummiball in meinem Mund erfreute.
Für mich war das alles normal. Ich kannte es nicht anders und von der politischen Situation in Polen bekam ich nichts mit und es interessierte mich mit fünf Jahren auch herzlich wenig. Ich wuchs in einem ganz kleinen Dorf auf, das sehr ländlich lag. Jeder kannte jeden. Es war eine große Gemeinschaft. Ich spielte als Kind draußen. Ich spielte auf Feldern, lief durch Wälder und genoß eine Freiheit, von der Kinder heute nur träumen können. Des Öfteren mussten meine Eltern mich irgendwo im Dorf abholen, weil ich losgezogen war, um Nachbarn mit schönen Puppen oder süßen Hundewelpen zu besuchen. Nicht selten bekam ich richtig Ärger aufgrund meiner Expeditionen auf eigene Faust. Aber ich liebte mein Leben. Wie gesagt, ich war damals gerade fünf Jahre alt und kann mich noch an ganz viele Details erinnern. Eigentlich ungewöhnlich, oder? Aber ich beziehe es auf den plötzlichen Cut, der mit unserem Umzug nach Deutschland eintrat.
Worauf ich mich am meisten in Deutschland freute? Ich wollte eine Banane essen. Ich weiß nicht, woher die Faszination für diese Frucht kam. Vielleicht lag es einfach daran, dass es in Polen keine gab. Fakt ist, ich erlebte eine ganz große Enttäuschung und musste einsehen, dass die hübsche Optik der Banane mich in die Irre geführt hatte, denn sie schmeckte mir überhaupt nicht. Doch dies nur am Rande. Wie ging es weiter in Deutschland?
Nach unserer Ankunft, kamen wir in eine Notunterkunft. Klar, wir hatten ja nichts und mussten uns erst einmal orientieren. Dort trafen wir auf andere „Neuankömmlinge“ und knüpften erste Kontakte. Mein erster Tag im Kindergarten endete für mich mit großem Gebrüll. Ich sprach kein Wort Deutsch und die Kinder rissen mir meine Pudelmütze vom Kopf, weil sie meine Locken sehen wollten. Denkbar schlechte Begrüßung am ersten Tag. Aber Kinder sind bekanntlich nicht nachtragend und so wurde es mit jedem Tag besser. Selbst die fehlenden Sprachkenntnisse meinerseits störten nach ein paar Tagen nicht mehr. Wir spielten einfach miteinander und damit fing ich bereits an, meine ersten Brocken Deutsch zu lernen.
Es dauerte eine Weile bis wir richtig Fuß gefasst hatten. Doch es ging Schritt für Schritt bergauf. Meine Eltern fanden Jobs, eine eigene Wohnung, ich fand Freunde. Ich vermisste Polen anfangs so sehr, dass es fast schmerzte. Mir fehlte die Freiheit, die ich dort gehabt hatte. Mir fehlte das Landleben und alles, was damit einherging: Felder, Wälder, Tiere, Pilze sammeln etc. Nun wohnten wir in einer Wohnung in der Stadt und das Leben sah ganz anders aus. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Tatsächlich dauerte dieser Prozess nicht allzu lange. Sehr schnell hatte ich mich in Deutschland eingelebt. Eine Fähigkeit, die Kinder Erwachsenen deutlich voraus haben. Meine Eltern brauchten dafür länger.
Viele Jahre später war ich als Teenager in Polen in meinem alten Dorf zu Besuch, als ein fremder Mann aus seinem Garten angelaufen kam und mich mit meinem Namen ansprach. Er war ganz aufgeregt, umarmte mich, fragte wie lange wir bleiben würden. Ich war peinlich berührt, denn ich kannte ihn nicht und konnte mich beim besten Willen nicht an ihn erinnern. Obwohl Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits zu meinem Zuhause geworden war und ich Polen nicht mehr vermisste, war dies ein besonderer Moment, an den ich mich heute noch gerne erinnere. Denn er zeigt, dass wir überall Spuren hinterlassen, auch wenn wir irgendwann woanders sind, bleibt ein Stück von uns dennoch dort, wo wir einmal waren. Und das ist ein gutes Gefühl.
Es macht mich traurig, wenn ich höre, dass heute Anschläge auf Flüchtlingsheime verübt werden und ich frage mich, was Menschen dazu bewegt, so bösartig und widerwärtig zu sein. Es hätte damals auch uns treffen können in unserer Unterkunft, nachdem wir alles aufgegeben hatten, um uns ein neues Leben aufzubauen. Das führe ich mir immer wieder vor Augen und bin dankbar, dass es nicht so gekommen ist. Und wenn man nicht selbst in dieser Situation war, so war es vielleicht die Mutter oder der Vater oder der Opa damals im Krieg. Was gibt jemandem also das Recht anderen Menschen Schutz, eine Unterkunft, ein besseres Leben zu verwehren? Dinge, die man sich selbst genauso wünschen würde, wenn man sie nicht bereits hätte? Ist es fehlende Empathie? Ist es Angst? Ist es schlicht und ergreifend Dummheit?
Warst Du schon einmal fremd in Deutschland? Bist Du aus einem anderen Land hergezogen, bist als Aussiedler hergekommen oder als Flüchtling? Erzähle es mir in einem Kommentar!
Tanja says
Liebe Sabine,
bei deinem Satz „Denn er zeigt, dass wir überall Spuren hinterlassen, auch wenn wir irgendwann woanders sind, bleibt ein Stück von uns dennoch dort, wo wir einmal waren.“ kamen mir ein paar Tränchen in die Augen.
Vielen lieben Dank für den sehr, sehr schönen persönlichen Beitrag. Du hast so bildlich alles erzählt, dass ich mir deine Kindheit und deinen Umzug und deinen Puddelmützen-Lockenschopf mehr als gut vorstellen kann.
Es ist so wichtig, dass solche Geschichten erzählt werden. Auch, wenn die Flüchtlinge aktuell aus einer anderen Situation heraus kommen, ist was am Ende zählt, dass es alles Menschen sind und jeder Mensch das Recht auf Glück hat, oder?
Mich beeindruckt schwer, was Menschen für ihr Glück bereit sind zu tun. Gerade in unserer Szene in der so viel von Digitalen Nomaden, Freiheit, Glückssuche gesprochen wird, trifft man ja auch ein Herzensding vieler von uns.
Ich bin eine Karlsruherin. Durch und durch. Heute hoffe ich, noch mehr als je zuvor, dass ich wirklich dort eines Tages mein Ende finden darf und mich nicht davor ein Schicksal ereilt, das mich zwingt, meine Lieblingsstadt zu verlassen.
Ich kann deine Erfahrung nicht mit weiteren Erkenntnissen ergänzen, freue mich aber umso mehr, dass du uns mitgenommen hast.
Viele liebe Grüße
Tanja
Sabine says
Hallo Tanja,
vielen Dank für Deinen tollen und ausführlichen Kommentar.
Diese Episode aus meinem Leben ist so alt, dass sie eigentlich schon fast völlig vergessen war. In letzter Zeit musste ich jedoch immer wieder daran denken, wie es damals für uns war, alles aufzugeben und in Deutschland neu anzufangen. Hintergrund ist natürlich die aktuelle Flüchtlingswelle. Und obwohl unsere Situation völlig anders war und wir nicht auf der Flucht waren oder um unser Leben bangen mussten, stand ich hier dennoch als Kind in einem fremden Land, hoffte auf nette Menschen, eine Unterkunft und darauf, dass alles gut werden würde. In unserem Fall hat dies ja Gott sei Dank geklappt.
Aber wenn ich dann höre, dass Leute Flüchtlingsheime anzünden, weil ein dermaßen großer Hass in ihnen schlummert (auf Menschen, die ihnen nichts getan haben und ihnen auch nichts wegnehmen wollen), dann bin ich echt fassungslos, weil ich genau nachfühlen kann (oder glaube es nachfühlen zu können), wie diese Menschen in den Flüchtlingsheimen sich in diesem Moment fühlen müssen. :-(
Ein heikles Thema.
Liebste Grüße nach Karlsruhe <3
Sabine